Zeugen aus der Todeszone von Kilian, Siebert und Friedler

Buchcover "Zeugen aus der Todeszone"Im Journalismus bedeutet das Wort Rezension im Regelfall die kritische Besprechung künstlerischer Werke. Selten, aber doch, gibt es den Umstand, daß aufgrund des Inhaltes eines Werkes eine Rezension im klassischen Sinn gar nicht möglich ist. Dieser seltene Umstand trifft auf die Dokumentation der drei Autoren Barbara Siebert, Andreas Kilian und Eric Friedler über die Erlebnisse und den Lebensalltag der Zwangsarbeiter an den Vernichtungsmaschinen des Nationalsozialismus zu. Die Verfasser brechen mit ihrem Werk eine Thematik, die abseits des Vorstellbaren liegt, wie eine Geschwulst auf: Die erzwungene Arbeit der Menschen an den Krematorienöfen des Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Ein Buch, das auf den Aussagen der wenigen Überlebenden bei den Prozessen gegen die Widersacher, den zahlreichen Interviews der noch geringeren Anzahl der Personen, die heute noch leben, Aufzeichnungen, die auf dem Gelände des Konzentrationslagers versteckt wurden und weiteren historischen Quellen, basiert.

Ein nicht schier unvorstellbares Grauen wird bis ins Detail beschrieben. In einer Art und Weise, die den Leser fast zwingt, zwischendurch das Buch zur Seite zu legen, um erst selbst die entstandenen Bilder im Kopf verarbeiten und fassen zu können. Der Leser erfährt durch die Dokumentation essentielle Dinge, von denen auch noch im 21. Jahrhundert selbst ehemalige Häftlinge der Konzentrationslager wenig wissen und manch einer der Überzeugung war, daß die Arbeiter des sogenannten Sonderkommando sich quasi freiwillig an der Vernichtung der Juden und zahlreicher anderer betroffenen Menschen beteiligten, um selbst ein „angenehmeres“ Leben im Lager führen zu können. Tatsächlich wurden jedoch selbst diese Menschen durch Täuschung an diesen Arbeitsplatz der SS gebracht und standen nur vor der Wahl, selbst ermordet zu werden, sich umzubringen oder diese Arbeit zu verrichten. Ein Wahnwitz: Wenn sich ein Sonderkommando-Angehöriger selbst umbrachte, wurden weitere dafür bestraft.

Buchauszug

Dov Paisikovic, der diese Leidenszeit überlebte und im Frankfurter Auschwitz-Prozess 1964 als Zeuge aussagte, erinnerte sich in seinem schriftlichen Bericht vom 17. Oktober 1963 an seine ersten Tage im Sonderkommando:

Dort war ein Haufen nackter Leichen aufgetürmt; diese Leichen waren ganz aufgebläht, und man befahl uns, sie zu einem ungefähr sechs Meter breiten und dreißig Meter langen Graben zu tragen, in dem schon Leichen verbrannten. Wir bemühten uns alle sehr, die Leichen dorthin zu bringen. Aber der SS waren wir zu langsam. Wir wurden schrecklich geschlagen, und ein SS-Mann befahl uns: Ein Mann pro Leiche. Da wir nicht wußten, wie wir diesen Befehl ausführen sollten, wurden wir wieder geschlagen, und ein SS-Mann zeigte uns nun, daß man die Leiche mit dem gebogenen Teil des Stockes am Hals nehmen und so wegziehen mußte (…) Das ging acht Tage so. Einige von uns haben sich selbst ins Feuer geworfen, weil sie nicht mehr konnten. Wenn ich heute ihre Zahl zu schätzen hätte, würde ich sie auf acht oder neun schätzen. Unter ihnen befand sich ein Rabbi.

Die Arbeit, sie bestand ausschließlich aus der Beseitigung der Überreste der ermordeten Opfer und der vorangehenden Verwertung ihrer Körper. Sie lebten selbst isoliert in eigenen Gebäuden und die Kommunikation mit anderen Häftlingen im Konzentrationslager war bei Todesstrafe verboten. Es gab Fälle bei denen Sonderkommando-Angehörige bei lebendigem Leib von SS-Angehörigen in den Ofen geworfen wurden.

Unmißverständlich und eindeutig zeigt dieses Buch auch den Umstand auf, wie sehr das nationalsozialistische System bestrebt war, unter äußerster Geheimhaltung den Völkermord an den Juden vorzunehmen. Selbst SS-Angehörige, die beispielsweise mit der Außensicherung des Lagers beauftragt waren, hatten in sensible Bereiche gar keinen Zutritt und die Angehörigen, die in Kernzonen des technischen Vernichtungssystems arbeiteten, mußten eigene Erklärungen unterfertigen, die ihnen bei Todesstrafe untersagten, über die Geschehnisse innerhalb dieser Lagerabschnitte mit anderen zu sprechen.

Das Spektrum der Buchdokumentation beleuchtet die Entstehung des ersten Krematorium bis hin zur Perfektionierung der Massenvernichtung in Auschwitz. Der Begriff „Todesfabrik“ war und ist kein subtiles, einfach verwendetes Schlagwort, sondern war dort ein Faktum. Der Massenmord, die industrielle Verwertung und Vermarktung der Überreste der Opfer stellt wohl den grausigsten Höhepunkt des Nationalsozialismus bei der „Endlösung“ der Judenfrage dar.

Buchauszug

Ab 1943 hatte die SS allerdings in der Asche und dem Mehl der zerkleinerten Knochen eine weitere lukrative Einnahmequelle erkannt: Über 112 Tonnen Knochenmehl wurden an eine Firma verkauft, die diesen Rohstoff zu Düngemitteln für die Landwirtschaft weiterverarbeitete.

Der vielerorts bekannte Ausspruch „Arbeit mach frei“ hat einen geschilderten Hintergrund, der an Zynismus kaum zu übertreffen ist und wer dieses Buch einmal gelesen hat, der wird sich überlegen, das Wort „Kapo“ nochmals im Alltagsgebrauch in den Mund zu nehmen.

Buchauszug über die Aussage des SS-Unterscharführer Milton Buki beim Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main

Es scheint mir ausgeschlossen, daß der Zeuge als Angehöriger des Sonderkommandos den Aufenthalt in Auschwitz überlebt hat. Ich weiß mit Bestimmtheit, daß die Angehörigen des Sonderkommandos von Zeit zu Zeit restlos beseitigt worden sind. Von den Sonderkommandos blieb dann niemand übrig, auch die Funktionshäftlinge fielen der Vernichtung anheim. Ich habe einmal beobachtet, wie ein Sonderkommando von Birkenau in das Stammlager geführt wurde, um dann in dem kleinen Krematorium umgebracht zu werden.

Dem nationalsozialistischen System mit seinen SS-Schergen ist es nicht gelungen alle Zeugen dieser Verbrechen zu liquidieren, so stehen sie noch heute als Symbol dafür, daß sich die Wahrheit niemals totschweigen läßt – sie sind mit ihren Schilderungen Teil der Hoffnung, daß sich Vergangenes nicht wiederholt, wenngleich die Täter nicht immer zur Verantwortung gezogen werden (können) …

Anm.: Die Buchcoverabbildung variert zwischen dem Taschenbuch und der Hardcoverausgabe.

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2005-05-27